Ausgabe 3/2018, Juli

WIdO-Themen

Pflege-Report 2018: Sektorenübergreifende Qualitätsmessung machbar

„Qualität in der Pflege“ heißt der Schwerpunkt des Pflege-Reports 2018. Die Versorgung Pflegebedürftiger in Deutschland wird dabei unter Qualitätsaspekten und aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und bewertet. Ein wichtiges Fazit: Sektorenübergreifende Qualitätsmessung ist machbar und kann die Qualitätssicherung in der Langzeitpflege sinnvoll ergänzen.

Dass es zwischen den Pflegeheimen in Deutschland erhebliche Qualitätsunterschiede gibt, belegt eine Analyse von AOK-Routinedaten im aktuellen Pflege-Report. Dafür wurden erstmals routinedatenbasierte Qualitätskennzahlen für rund 5.600 Pflegeheime entwickelt und für das Jahr 2015 getestet. Deutlich zeigt sich: Verbesserungspotenzial gibt es sowohl in pflegenahen Bereichen wie bei der Dekubitusprophylaxe als auch in sektorenübergreifenden Bereichen wie der Arzneimittelversorgung Demenzkranker. So treten in einem Viertel der Pflegeheime zwölf und mehr Druckgeschwüre (Dekubiti) pro 100 Bewohner auf. Das sind mehr als dreimal so viele wie im Viertel der Heime mit den geringsten Raten. Dekubitus gilt als in der Regel durch fachgerechte Prophylaxe vermeidbar.

Darüber hinaus erhielten mehr als 40 Prozent der Pflegeheimbewohner mit Demenz mindestens eine Antipsychotika-Verordnung pro Quartal. Leitlinien hingegen sehen zunächst nicht medikamentöse Verfahren als Mittel der Wahl in der Demenzversorgung. Damit sind diese Ergebnisse ein möglicher Hinweis auf eine medikamentöse Fehlversorgung in Pflegeheimen.

Ebenfalls kritisch ist die Zahl ambulant-sensitiver, das heißt potenziell vermeidbarer Krankenhausaufenthalte zu sehen: Sie lagen im Schnitt bei 32 Fällen je 100 Bewohnern, in fünf Prozent der Pflegeheime sogar bei 63 Fällen. Jeder fünfte Bewohner wird im Laufe eines Quartals in ein Krankenhaus eingewiesen. Für betagte, multimorbide Pflegeheimbewohner stellt jeder vermeidbare Krankenhausaufenthalt ein unnötiges gesundheitliches Risiko dar.

Die Kennzahlen des aktuellen Pflege-Reports geben wichtige Impulse für eine Debatte über Qualität im Pflegeheim, die über das Elfte Sozialgesetzbuch hinausgeht und alle an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen einbezieht. Im nächsten Schritt bedarf es nun der methodischen Weiterentwicklung des routinedatenbasierten Indikatorensets. Dazu gehört eine belastbare Risikoadjustierung, die einen aussagekräftigen Vergleich der Pflegeheime untereinander ermöglicht.

Überdies sollten die sechs bestehenden Indikatoren um weitere sektorenübergreifende Indikatoren ergänzt werden. Langfristig können diese Indikatoren die interne wie externe sektorenübergreifende Qualitätssicherung ergänzen und die Versorgung transparenter machen. So ließen sich auch Verbesserungsmaßnahmen routinedatenbasiert evaluieren.

Darüber hinaus wird im Pflege-Report 2018 in 15 Fachbeiträgen ein breites Spektrum an Fragen zur Qualität in der Langzeitpflege diskutiert. Dabei geht es beispielsweise um die theoretische Fundierung des Begriffs Qualität, um ethische und historische Betrachtungen zur Pflege, um nationale Gesetzgebung und internationale Ordnungspolitik. Die Perspektiven der Betroffenen, unter anderem durch die Erfassung ihrer Lebensqualität, sind dabei ebenso zentral wie Effekte der Personalausstattung.

Dr. Antje Schwinger, Mitarbeiterin des Forschungsbereichs Pflege im WIdO

„Bei der Qualität der Versorgung von Pflegebedürftigen gibt es viele Faktoren. Sie hängt nicht allein von den Pflegekräften ab. Um diese Qualität zu messen, bedarf es einer sektoren- und damit berufsgruppenübergreifenden Herangehensweise.“

Dr. Antje Schwinger, Mitarbeiterin des Forschungsbereichs Pflege im WIdO

Arzneimittel-Rabattverträge: Mehr Vielfalt, stabilere Versorgung

Welche Auswirkungen Arzneimittel- Rabattverträge haben, hat das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) überprüft.

Arzneimittel-Rabattverträge erhöhen die Anbietervielfalt im Generikamarkt. Befürchtungen der Pharmaindustrie, die Verträge trügen durch einen stärkeren Kostendruck zur Oligopolbildung und zur Konzentration des Marktes auf wenige Anbieter bei, widerlegt eine Untersuchung des WIdO.

Ein weiterer Vorteil: Unnötige Medikamentenwechsel werden seltener. Im Jahr 2016 erhielten 85 Prozent der Patienten, die dauerhaft Medikamente einnahmen, ihr Präparat immer vom selben Hersteller. Dieser Anteil ist seit der Einführung der Arzneimittel-Rabattverträge um rund 15 Prozent gestiegen. Außerdem sanken durch die Verträge die GKV-Ausgaben für Arzneimittel im Jahr 2017 um vier Milliarden Euro – auch dies zeigt die WIdO-Analyse.

Multiple Sklerose: Risikoreiche Hoffnungsträger

Bei jedem zweiten Arzneimittel, das gesetzlich Krankenversicherte mit Multipler Sklerose 2017 erhielten, sind Langzeitwirkung und Sicherheitsrisiken nicht ausreichend bekannt.

Multiple Sklerose (MS) ist in Deutschland die häufigste neurologische Erkrankung junger Erwachsener. Die Autoimmunerkrankung verläuft meist schubförmig und führt zu körperlicher Behinderung. Vor zwanzig Jahren kamen erstmals zwei Arzneimittel auf den Markt, mit denen sich die Krankheitsschübe prophylaktisch behandeln lassen. Deren Wirksamkeit und Sicherheit sind seitdem gut erforscht.

Mittlerweile stehen insgesamt elf Wirkstoffe zur Verfügung. Für die neueren Wirkstoffe gibt es bisher keine Studien, die besagen, ob sie tatsächlich das Fortschreiten der Erkrankung aufhalten. Ebenso fehlt eine vergleichende Beurteilung der Mittel untereinander.

Auch ihre Nebenwirkungen sind noch nicht abschließend einschätzbar. So musste das Arzneimittel Zinbryta© mit dem Wirkstoff Daclizumab nach Meldungen über schwere Hirnhautentzündungen weltweit vom Markt genommen werden. Dennoch entfiel knapp die Hälfte der Verordnungen bei MS auf die neuen Präparate. Das zeigt eine Analyse des GKV-Arzneimittelindex.

Das WIdO analysiert im GKV-Arzneimittelindex den deutschen Arzneimittelmarkt, um zu einer qualitativ hochwertigen, wirtschaftlichen Versorgung beizutragen. Dazu wird die international geltende anatomisch-therapeutisch-chemische Klassifikation (ATC) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) jährlich an die Situation des deutschen Arzneimittelmarktes angepasst.

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Analysen – Schwerpunkt: Koalitionsvertrag

1. Verbesserte Bedingungen in der Pflege – zur aktuellen Diskussion um Bedarf und Instrumente

Jonas Schreyögg und Ricarda Milstein, Universität Hamburg

Die Relevanz der Pflege für die Behandlungsqualität im Krankenhaus ist klar belegt. Die Einführung von Pflegepersonaluntergrenzen und krankenhausindividuellen Pflegebudgets sind gerade in ihrer Kombination potenziell ein starkes Signal an die Pflege. Ihr Erfolg hängt jedoch maßgeblich von der Ausgestaltung ab und davon, ob eine Nichteinhaltung mit Konsequenzen verbunden ist.

2. Arzneimittel – transparente Preise sinnvoller als Versandhandelsverbot

Iris an der Heiden, IF! Institut für sozioökonomische Forschung/2HM & Associates GmbH, Mainz

Im Koalitionsvertrag hat sich der Einsatz für ein Verbot des Versandhandels mit rezeptpflichtigen Arzneimitteln (Rx) gegen ein erhöhtes Beratungs- und  Sicherstellungshonorar bei drohender Unterversorgung durchgesetzt. Im Gutachten „Ermittlung der Erforderlichkeit und des Ausmaßes von Änderungen der in der Arzneimittelpreisverordnung (AMPreisV) geregelten Preise“ wurden wesentliche neue Erkenntnisse zur flächendeckenden Versorgung mit Apotheken, zu der Struktur der Honorierung für Apotheken und dem pharmazeutischen Großhandel sowie Daten zur aktuellen Entwicklung nach dem EuGH-Urteil im Marktanteil der Versender gewonnen. Es zeigt sich, dass ein Rx-Versandverbot allein den großen, wirtschaftlich bedrohten Anteil der

Apotheken nicht im Bestand bewahren kann. Vielmehr fehlt eine Problemdefinition für die flächendeckende Versorgung mit Apotheken; Maßnahmen zur Sicherstellung sind bereits gesetzlich verankert. Ganz im Gegensatz dazu steht das aktuell zu lösende Problem der zu hohen Kosten im Gesundheitsbereich, das unmittelbar eine transparente und gerechte Vergütung über die AMPreisV verlangt.

3. Die Lücke im Koalitionsvertrag schließen – mehr Wettbewerb wagen!

Klaus Jacobs, Wissenschaftliches Institut der AOK, Berlin

Im gesundheitspolitischen Teil des Koalitionsvertrags der Großen Koalition kommen die Krankenkassen als aktive Gestalter der Gesundheitsversorgung nicht vor. Dabei haben  zentrale Plan- und Kollektivwirtschaft schon in der Vergangenheit nicht vermocht, Qualität, Wirtschaftlichkeit und Präferenzorientierung der Versorgung gezielt zu verbessern. Ein aktuelles Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen stößt jetzt in die ordnungspolitische Lücke des Koalitionsvertrags und plädiert für ein dezidiert vertragswettbewerbliches Steuerungsmodell. Die Politik wäre gut beraten, diese Vorschläge nicht einfach ad acta zu legen, sondern mutig aufzugreifen.